Das wiedervereinigte Deutschland in einem neuen Europa

Didaktische Zielsetzung: Vergleich der unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme in Deutschland nach 1945, Verdeutlichung der Konsequenzen der deutschen Teilung, problematisierte Betrachtung der Folgen der Wiedervereinigung und Einordnung der Fragestellung in den europäischen Kontext

Schlüsselbegriffe: Wirtschaftssysteme in der BRD und DDR, die innerdeutsche Grenze und ihre Auswirkungen (Eiserner Vorhang), wirtschaftliche Blockbildung in Europa, Schwerpunktverlagerungen, "Blaue Banane", ein neues Deutschland in einem neuen Europa

Wenige Länder der Welt teilen Deutschlands jüngste Geschichte, ein geteilter Staat mit zwei völlig unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Systemen gewesen zu sein. Nur Korea ist seit dem Koreakrieg 1956 in einer in Ansätzen vergleichbaren Situation. Von allen territorialen Veränderungen, die in Deutschland in den letzten 100 Jahren stattgefunden haben, besaß die Errichtung des sogenannten Eisernen Vorhangs im Jahr 1949 den einschneidensten Einfluß auf das soziale und wirtschaftliche Leben des Landes. Während Westdeutschland eine starke Marktwirtschaft entwickelte, die in der Aufbauphase durch den Marshall-Plan wesentlich unterstützt wurde, mußte Ostdeutschland die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs mit eigenen Mitteln bewältigen. Hinzu kam, daß die Sowjets die meisten noch verbliebenen Industrieanlagen demontierten.

Welches waren die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Systemen?

Im Sinne der klassischen Standorttheorien haben beide Teile Deutschlands unter der Teilung des Landes gelitten. Insbesondere entlang der innerdeutschen Grenze verloren Städte wie Braunschweig, Kassel, Eisenach, Erfurt und andere, die ehemals florierende Zentren waren, ihr traditionelles Hinterland. Die ehemalige Hauptstadt von Hessen, Kassel [1], ist ein gutes Beispiel, um dies zu verdeutlichen. Bereits auf vorindustriellen Wurzeln basierend lockte die Stadt während des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl dynamischer Unternehmen an, darunter zum Beispiel die Firma Henschel. Dieses Familienunternehmen war einer der wichtigsten Lokomotivenhersteller Deutschlands in der Boomphase der Eisenbahnentwicklung. Während des Dritten Reiches spezialisierte sich der Betrieb auf die Herstellung von Kriegsausrüstung und wurde daher 1945 zur Zielscheibe für die Bombardierungen der Alliierten. Kassel wurde während mehrerer Bombenangriffe fast vollständig zerstört.

Der Wiederaufbau nach Beendigung des Krieges stand unter ungünstigen Vorzeichen. Nur 40 km östlich der Stadt verlief die deutsch-deutsche Grenze, was den Verlust eines großen Teils des traditionellen Hinterlandes der Stadt bedeuetete. Wäre nicht im Jahr 1957 mit staatlicher Hilfe im benachbarten Baunatal ein Zweigbetrieb des Volkswagenwerks entstanden, so wären die Strukturschwächen in der nordhessischen Region aufgrund der deutschen Teilung insgesamt noch deutlicher geworden. Das Volkswagenwerk wurde in den Folgejahren zum wichtigsten Arbeitgeber [2] für Kassel und für weite Teile Nordhessens.

Östlich der Grenze war die Situation ohne Zweifel noch gravierender, da die Regierung der DDR alles daransetzte, eine wirtschaftliche Entwicklung im Grenzgebiet zu verhindern. Um die Republikflucht zu unterbinden war es der Bevölkerung nicht einmal erlaubt, sich der Grenze zu nähern, die Bevölkerung der grenznahen Siedlungen ausgenommen. Innerhalb eines 10 km breiten Grenzstreifens durften sich nur aufhalten, wer dort tatsächlich wohnte. Die Grenze selbst war eine hochentwickelte Verteidigungslinie, die systematisch von schwerbewaffneten Grenzsoldaten kontrolliert wurde. Ein schier unüberwindbares System von Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern, Lichtkorridoren und Wachtürmen trennte die beiden deutschen Staaten. Fast alle Straßen, Eisenbahnstrecken, Wasser- und Stromverbindungen zwischen Ost und West waren an dieser Grenze unterbrochen. Nur wenige Straßen-, Schienen- und Flugkorridore existierten, um den Zugang nach Westberlin zu gewährleisten. Der brutale Anblick dieser Grenze ist heute kaum noch vorstellbar.

Die Probleme, die mit der Wiedervereinigung 1990 eintraten, waren in ihrer Dimension kaum absehbar. Hinzu kam, daß der Prozeß völlig unerwartet stattfand. Die Wirtschaft Ostdeutschlands hatte buchstäblich kollabiert, ebenso wie die der übrigen kommunistischen Nachbarstaaten. Der wirkliche Zusammenbruch für die ostdeutsche Industrie und andere Wirtschaftsbereiche, einschließlich der Landwirtschaft, kam jedoch erst nach der Wiedervereinigung, als staatliche Subventionen und Monopole quasi über Nacht aufgehoben wurden. Es wurde offensichtlich, daß Produkte und Löhne in keiner Weise die Produktivität widerspiegelten. Hinzu kam, daß die Märkte des gesamten Ostblocks weggebrochen waren, die über Jahrzehnte hinweg wichtige Abnehmer der ostdeutschen Waren gewesen sind.

Eine der ersten Maßnahmen der Bundesregierung nach der Wiedervereinigung war die Gründung der sog. Treuhandanstalt, welche die Privatisierung von Firmen und Immobilien in Ostdeutschland abzuwickeln hatte. Besondere Anstrengungen waren notwendig, um die Kommunikationsstrukturen zwischen Ost und West wieder aufzubauen. Trotz intensiver Integrationsbemühungen und Finanzaufwand in Milliardenhöhe konnten die vielfältigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme im Osten jedoch nicht über Nacht gelöst werden. Es wird noch viele Jahre dauern, bis das neue Deutschland die Unterschiede überwunden haben wird, die auch 10 Jahre nach der Wiedervereinigung noch zwischen Ost und West bestehen.

Die deutsche Wiedervereinigung hat aber ganz zweifellos auch eine europäische Perspektive. Die politischen Ereignisse der Jahre 1989/1990 haben nicht nur die deutsche Teilung beendet, sondern auch neue Brücken zwischen West- und Osteuropa entstehen lassen. Plötzlich ist Deutschland von einer Zahl neuer Handelspartner umgeben. Viele europäische Länder verlagern ihren Blickwinkel ostwärts, was aus politischen Gründen fast ein halbes Jahrhundert lang ausgeschlossen war. Die Frage ist nun, ob und wie die historischen Verbindungen, die immer schon zwischen den beiden Hälften des Kontinents bestanden hatten, wiederhergestellt werden können. Dies ist eine andauernde Debatte und Ursache für zahlreiche Planungsentwürfe und Strategiediskussionen, die sicherlich noch viele Jahre andauern werden. Während der Phase der politischen Konfrontation zwischen Ost und West hat sich die räumliche Organisation innerhalb des kapitalistischen und kommunistischen Blocks von den traditionellen Mustern entfernt.

Als Folge der politischen Teilung haben sich diese Verbindung seit dem Zweiten Weltkrieg stärker nord-südlich ausgerichtet. Der häufig als Europas Blaue Banane[3] bezeichnete Wirtschaftskorridor verdeutlicht das neue Raumgefüge. Er beginnt im Altindustriegebiet Mittelenglands, schließt den Großraum London ein, durchzieht die Wirtschaftszentren in den Niederlanden (Randstad, Rotterdam) und Belgien, setzt sich in Deutschland unter Einschluß des Ruhrgebiets, des Rhein-Main-Gebiets, des Rhein-Neckar-Dreiecks und des Mittleren Neckarraums entlang der Rheinachse weiter fort, um sein südliches Ende im Industriedreieck Genua-Mailand-Turin in Norditalien zu finden. Innerhalb dieses Gürtels konzentrieren sich Europas wichtigste industrielle Produktionsstätten (daher auch blau, was sich auf die blaue Arbeitskleidung bezieht), daneben die wichtigsten tertiären Schwerpunkte einschließlich fünf europäischer Hauptstädte sowie die institutionellen Zentren der Europäischen Union. Der Begriff steht außerdem für eine wirtschaftlich prosperierende Region, in der während der letzten Jahrzehnte grenzüberschreitende Aktivitäten erheblich intensiviert worden sind. Entlang des Korridors wurden zahlreiche sogenannte Euregios geschaffen, um die regionale Entwicklung über nationale Grenzen hinweg zu beschleunigen. Grenzüberschreitende Kooperation [4] gibt es inzwischen zwar auch entlang der gemeinsamen deutschen Grenze mit den östlichen Nachbarstaaten, jedoch hat sich mit Einrichtung dieser Euregionen nicht überall ein neuer Aufschwung manifestiert.

Besonders augenfällig wird diese Nord-Süd-Ausrichtung im Bereich vieler Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen. Die wichtigsten ICE-Verbindungen, das Autobahnnetz u.a. haben im Verlauf er letzten Jahrzehnte vor allem in nord-südlicher Richtung einen Ausbau erfahren. Hier machten auch die Verbindungen nach Berlin keine Ausnahme. Die sogenannte Rheinachse (also die Konzentration leistungsfähiger Transportwege im Rheintal) ist hierfür das beste Beispiel. Zu berücksichtigen ist auch die wirtschaftliche Schwerpunktverlagerung , die in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne eines Frostbelt-Sunbelt Shifts erfolgt ist. Während traditionelle, ökonomische Zentren im Norden an Bedeutung verloren haben (Hafenstandorte, Ruhrgebiet u.a.), konnten sich süddeutsche Zentren wie München und Stuttgart auf der Grundlage zukunftsweisender Industrien kräftig entfalten. Im europäischen Maßstab besteht ein ähnlicher Trend. Der Küstenstreifen zwischen Valencia in Spanien und Genua in Italien wird häufig schon heute als die Goldene Banane Europas bezeichnet, gelegentlich auch als der europäische Silikongürtel, in dem sich High-Tech Industrie, Elektronische Industrie, Luftfahrtindustrie, Forschungszentren etc. bereits in hohem Maße konzentrieren. Offensichtlich hat sich die ökonomische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Richtung Süden verlagert. Ob die Wiedervereinigung Deutschlands und die Neugliederung Europas diesen Trend zu Gunsten der östlichen Nachbarstaaten Deutschlands umkehren wird, muß derzeit angesichts der vielen ungelösten Schwierigkeiten in den osteuropäischen Ländern eher skeptisch beurteilt werden.

Der Glücksspielstaatsvertrag der Länder der Bundesrepublik Deutschland

Zu einer sozialen Marktwirtschaft gehören auch Dienstleistungen, die den Menschen, welche sie in Anspruch nehmen, einen geldwerten Vorteil bringen können. Neben dem Handel am Finanzmarkt, dem Spekulieren an Wertpapier- und Rohstoffbörsen und Wetten in jeglicher anderer Form zählt zu diesen Dienstleistungen auch das Glücksspiel. Dieses war lange Zeit und vor allem bei den standortgebundenen Angeboten von staatlicher Seite reguliert und geführt. Vor allem das Lotto-Angebot, Keno-Spiele, Wetten und Casinos zählten und zählen zu diesem überwachten Bereich.

Glücksspiel als Ländersache: der Glücksspielstaatsvertrag

Der in der Gesamtheit seines Namens „Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland“ genannte Vertrag der 16 Bundesländer der wiedervereinigten Bundesrepublik wurde in seiner jetzigen Form im Dezember 2011 erlassen und trat anschließend im Juli 2012 in Kraft. Inhalt war unter anderem, dass die Länder über das Glücksspielangebot auf ihrem Grund wachen und Anbieter regulieren sowie einzeln zulassen sollten. Gerade mit Blick auf den internationalen Markt und auf Online Casinos war dies immer wichtiger geworden. Das ausgesprochene Ziel des Vertrags war der Spielerschutz.

Das Scheitern des Vertrags

Es gibt im Netz zahlreiche Seiten, die Online Glücksspiel in Deutschland unter der Lupe betrachten. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt: lediglich Schleswig-Holstein ließ im Alleingang 23 Online Casinos für den hiesigen Markt passieren. Alle anderen Länder verschlossen sich. Die EU kritisierte dies, da sie hinter dem Vorgehen die Festigung des Monopols Deutschlands auf eigenem Grund vermutete. Das führte am Ende dazu, dass von Seiten der EU der Vertrag als gescheitert und nicht rechtmäßig sowie nicht das Ziel des Spielerschutzes verfolgend bezeichnet wurde. Die Folge: (Online) Casinos aus dem EU-Ausland dürfen nun aufgrund der „europäischen Dienstleistungsfreiheit“ in Deutschland aktiv werden.

Fragen und Aufgaben:
  • Vergleiche Kanadas/Nordamerikas Wirtschaftssystem mit dem deutschen System!
  • Welche Bedeutung hat das sog. Hinterland für eine Stadt oder ein wirtschaftliches Zentrum?
  • Osteuropa wird gelegentlich als bedeutender Markt der Zukunft angesehen. Entspricht dies einer realistischen Einschätzung?
  • Lassen sich Standortfaktoren für die künftige Industrieentwicklung definieren, die den Osten gegenüber dem Westen Europas begünstigen?
  • Welche Voraussetzungen sind notwendig, um das Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und Westeuropa auf absehbare Zeit zu schließen?

[1] http://www.uni-kassel.de/fb12/afks/Deutsch/frameset.htm
[2] http://www.baunatal.de/6004/info00.asp
[3] http://www.maps.ethz.ch/aktuell-europa.html#europa-phys
[4] http://www.france.diplomatie.fr/label_france/DEUTSCH/euro.html


Seitenanfang